Der Einfluss von Stress auf das Lernen und Gedächtnis deines Hundes

Stell dir vor, eine Ratte wird in ein kleines Wasserbecken gesetzt, in dessen Mitte sich eine kleine, zunächst sichtbare Insel befindet. Die Ratte lernt: Wenn ich zu dieser Insel schwimme, kann ich aus dem Wasserbecken herauskommen. Also schwimmt die Ratte immer wieder zielstrebig zur Insel.

Nun wird das Experiment etwas schwieriger: Die Plattform ist jetzt unter der Wasseroberfläche versteckt und das Wasser ist trübe. Die Frage ist: Kann sich die Ratte noch an die genaue Position der Insel erinnern? Es wird das räumliche Lern- und Erinnerungsvermögen getestet.

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Studien zeigen, dass das Erinnerungsvermögen der Ratten von der Intensität des Stressors abhängt, in diesem Fall der Wassertemperatur. Ist das Wasser kälter, können sich die Ratten besser an die Position der Insel erinnern als Ratten, die in wärmerem Wasser schwimmen. Der Stress des kalten Wassers hilft den Ratten, sich besser zu erinnern, weil die Flucht vor dem Stressor für sie wichtiger wird.

Vielleicht fragst du dich jetzt, was das mit dem Lernverhalten deines Hundes zu tun hat? Schließlich ist dein Hund keine Ratte und erlebt ganz andere stressige Situationen in seinem Alltag. Er wird nicht in kalte Schwimmbecken geworfen, aus denen er sich retten muss.

Das beschriebene Experiment ist der Morris Wasserlabyrinth-Test, entwickelt in den 1980er Jahren, und er wird auch heute noch genutzt, um das Lernen und Gedächtnisleistung zu erforschen. Natürlich müssen Tierversuche kritisch betrachtet werden, aber die Erkenntnisse, die wir aus diesem Versuch gewonnen haben, sind wertvoll. Sie helfen uns zu verstehen, wie Stress das Lernen und Erinnern beeinflusst – und das gilt auch für unsere Hunde.

Doch was ist Stress eigentlich?

Stress muss nicht immer schlecht sein. Er kann uns helfen, auf Herausforderungen zu reagieren und zu überleben. Wenn wir über Stress sprechen, meinen wir die körperlichen und psychischen Veränderungen, die als Reaktion auf einen Stressor, also eine stressige Situation, auftreten. Es gibt verschiedene Modelle und Forschungsrichtungen, die versuchen, zu erklären, was als Stress verstanden werden kann. Aktuell wird das Modell der Wechselwirkung zwischen Homöostase und Allostase als am meisten der Komplexität von Stress gerecht werdend angesehen.

Das innere Gleichgewicht – Homöostase und Allostase

Homöostase bezieht sich auf den Zustand, den ein Organismus aufrechtzuerhalten versucht, indem er interne Prozesse wie Temperatur, Blutdruck und Stoffwechsel reguliert – man nennt ihn auch das „innere Gleichgewicht“. Allostase hingegen beschreibt die Anpassung des Organismus an veränderte Umweltbedingungen oder Stressoren. Für die Allostase werden beispielsweise Epinephrin, Cortisol oder Zytokine mobilisiert, um die Homöostase unter den jeweiligen Bedingungen in der Umwelt aufrechtzuerhalten.

Diese wissenschaftlichen Begriffe musst du dir nicht unbedingt merken. Wichtig ist zu verstehen, dass dein Hund auf Stress mit Veränderungen im Körper reagiert, um sich anzupassen, zu schützen und zurück ins Gleichgewicht zu kommen.

Der Grad dieser Aktivierung hängt neben der Schwere und Dauer des Stressors auch von individuellen Faktoren ab. Genetik und die individuellen Lebensumstände, ebenso die Lerngeschichte beeinflussen also, wie das körpereigene System auf Stressoren reagiert.

Chronischer Stress: wenn Stress zum Problem wird

Bei einer normalen Stressreaktion reagieren neuronale und neuroendokrine Systeme, um sich an die äußeren Gegebenheiten anzupassen. Das bedeutet, dass ein Tier versucht, mit einem Stressor fertigzuwerden und im Körper deines Hundes alles daran arbeitet, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Akuter, also kurzzeitigem Stress kann sogar hilfreich sein. Die Ausschüttung geringer Mengen Corticosteron z.B. kann Entzündungen reduzieren und Aspekte der Immunantwort verbessern.

Wenn dein Hund jedoch sehr oft, oder anhaltend gestresst ist, kann das schädlich sein. Sein Körper ist dann ständig damit beschäftigt, auf die Stressoren zu reagieren, was zu einer Überlastung führt. Statt zu helfen, kann diese Dauerbelastung Schaden anrichten. Das Übermaß an Hormonen des Stresssystems belastet den Körper zusätzlich.

Auch das Verhalten deines Hundes kann sich ändern, da er nicht mehr angepasst reagieren kann. Diese Verhaltensänderungen können die stressigen Situationen noch verschlimmern, wenn der Hund bspw. Verhalten zeigt, welches nicht zu einer Besserung seiner Situation beiträgt, sondern weiteren Stress hinzufügt.

Langfristige Auswirkungen von chronischem Stress

Langfristiger Stress schwächt das Immunsystem deines Hundes erheblich und kann Entzündungen begünstigen. Außerdem befindet sich der Körper in einer negativen Erwartungshaltung, immer in „Alarmbereitschaft“, die Umwelt wird in ein negatives Licht gefärbt und befeuert somit einen negativen Kreislauf. Die negativen Auswirkungen auf Körper und mentale Gesundheit halten also weiter an und der Stress wird schwer zu händeln. Chronischer Stress kann auch langfristige Schäden verursachen, selbst wenn die stressige Situation vorbei ist. Die negativen Auswirkungen auf Körper und Psyche bleiben bestehen, der Stress wird kaum zu bewältigen und eine weitere Abwärtsspirale wahrscheinlich.

Auswirkungen im Gehirn

Im Gehirn zirkulieren bei einer solchen Reaktion beispielsweise Hormone, die die Gehirnstruktur beeinflussen können. Das Gehirn verfügt über eine adaptive Plastizität, das bedeutet, dass es sich verändern kann, um mit äußeren Umständen umzugehen. Das betrifft vor allem Hippocampus, Amygdala und den präfrontalen Kortex, also die Bereiche, die für Gedächtnis, Emotionen und Denken zuständig sind. Die Amygdala zum Beispiel (oft auch Angstzentrum des Hirns genannt), die für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig ist, wird dann überstimuliert. Was zu einem Kreislauf aus Angst und Angstreaktionen führt. Außerdem setzt es in Folge weiterer Reaktionen die Gedächtnisleistung herab.

So beeinflusst Stress das Erinnerungsvermögen​

Wenn du an das Morris Wasserlabyrinth Experiment zurückdenkst, fällt dir wahrscheinlich auf: Stress kann dabei helfen die Erinnerung zu verbessern. Der Stressor in diesem Fall, kaltes Wasser, führte dazu, dass die Ratten sich besser an die Position der rettenden Insel erinnern konnten, die Sicherheit und Wohlbefinden bedeutete.

Stress kann das Erinnern also verbessern, wenn er kurzzeitig und in einem gewissen Maß ist. Aber zu viel oder zu lange anhaltender Stress kann das Gedächtnis verschlechtern. Allgemein gibt es ein interessantes Wechselspiel beim Gedächtnis: Wir erinnern uns oft besonders gut an stressige, einschneidende Ereignisse, aber wenn wir generell gestresst und überlastet sind, vergessen wir sogar einfachste Dinge.

Hinter diesem Phänomen steckt eine Vielzahl von Gründen. Unter anderem beeinflusst Erregung die Gedächtnisleistung. Das wird oft als umgekehrte U- oder Hufeisen-Kurve dargestellt: Milder Stress kann die Gedächtnisleistung verbessern, aber wenn er zu lange anhält, zu stark oder zu niedrig ist, kann das Gedächtnis darunter leiden. Dies liegt vor allem an hormonellen Veränderungen und wurde bisher hauptsächlich an Ratten beobachtet, aber auch bei Menschen festgestellt.

Bei den Ratten im Wasserlabyrinth führte der Stress also zu einer Verbesserung, weil sie schnell ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellen und den Stressor bewältigen wollten, ohne dass der Stressor sie dabei erheblich beeinträchtigte. Es ist wichtig zu beachten, dass solche Experimente unter stark kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden und die Ratten zuvor die Möglichkeit hatten, sich den sicheren Ort in einer Trainingsphase einzuprägen.

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Die Dosis macht das Gift

Wie Paracelsus schon sagte: „Die Dosis macht das Gift.“ Das bedeutet, dass etwas in großen Mengen schädlich sein kann, während es in kleinen Mengen vielleicht harmlos ist. Dosis und Dauer sind auch die Schlüsselelemente, wenn es um Stress geht. Daneben spielen die Unterschiede in der Wahrnehmung und körperlichen Reaktion des Individuums eine bedeutende Rolle. Zusätzlich kommt es darauf an, wie das Individuum den Stressor auf lange Sicht verarbeitet.

Jeder Hund ist einzigartig und verarbeitet Stress anders. Das bedeutet, dass die Auswirkungen von Stress individuell unterschiedlich sind.

Deshalb sprechen Forschende heutzutage nicht mehr von „gutem“ oder „schlechtem“ Stress, sondern einfach von Stress und Erhöhung der Erregungslage im Allgemeinen. Was für den einen Hund eine positive Herausforderung ist, kann für den anderen belastend sein. Es hängt von der jeweiligen Situation, Lernerfahrungen, Genetik und damit eben dem individuellen Hund ab.

Die Bedeutung von Stress für dich und deinen Hund

Stress kann das Wohlbefinden deines Hundes stark beeinflussen und sich auf eure Beziehung auswirken. Es ist wichtig, dass du deinem Hund hilfst, stressige Situationen zu bewältigen. Das beginnt damit, dass du erkennst, was deinem Hund Stress bereitet, und versuchst, solche Auslöser nach Möglichkeit zu minimieren oder auch zu vermeiden. Da wir bei unserem individuellen Hund unmöglich zu jeder Tageszeit einschätzen können, welches das perfekte Stressmaß denn nun wäre, sollte man seinen Alltag so struktureiren, dass der Hund auch mit alltäglichen und unvorhergesehenen Stressoren, die nicht zu umgehen sind, gut umgehen kann. Darauf kannst du achten:

  • Unterstützung durch den Menschen: Erkenne die Anzeichen von Stress bei deinem Hund und biete ihm Unterstützung. Das kann zum Beispiel ein sicherer Rückzugsort sein. Manchmal reicht es aber schon, ihm deine Nähe und Sicherheit zu vermitteln.
  • Stressreduktion: Versuche, stressende Situationen zu minimieren oder zu vermeiden. Das kann durch Planung und Vorbereitung geschehen, wie zum Beispiel, deinen Hund langsam an neue Umgebungen zu gewöhnen. Indem du Stressauslöser vermeidest oder kontrollierst, hilfst du deinem Hund, sich entspannter zu fühlen.
  • Kleinschrittiges Training: Gewöhne deinen Hund langsam und in kleinen Schritten an neue Herausforderungen. Feiere jeden kleinen Fortschritt, um ihm Sicherheit zu geben. Dieses Vorgehen hilft ihm, sich nach und nach an stressige Situationen zu gewöhnen, ohne dabei überfordert zu sein. Dein Hund lernt zukünftig selbstkompetenter agieren zu können.
  • Positive und stressarme Lernumgebung: Schaffe eine Umgebung, in der sich dein Hund wohlfühlt. Vermeide beim Training zunächst Orte, an denen sich dein Hund sichtlich unwohl fühlt und setze auf positive Verstärkung, um deinem Hund ein angenehmes Gefühl zu geben. Ein ruhiger, sicherer Ort mit der Möglichkeit im eigenen Tempo selbstwirksam zu lernen kann Wunder wirken und die Lernerfolge deines Hundes deutlich verbessern.

Deinen Hund zu unterstützen, trägt maßgeblich zu seinem Wohlbefinden bei. Nachweislich bringt das Achten auf die Bedürfnisse deines Hundes und ein Training, das auf Wertschätzung und positiver Verstärkung basiert, weniger stressbedingte Verhaltensweisen hervor und ist damit entscheidend für seine Gesundheit.

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Quellen

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